Paul baut ein Vogelnest

Paul baut ein Vogelnest

Paul baut ein Vogelnest

Paul baut ein Vogelnest

Vor kurzem bekam ich zwei winzige Spatzenjungen zur Pflege. Ich berichtete bereits davon. Nach einer Woche haben sich die beiden Vögel gut entwickelt, so dass einer bereits ausgeflogen ist und ohne Hilfe zurechtkommt. Der andere Spatz ist jedoch noch auf Fürsorge angewiesen. Er braucht regelmäßig Futter, so dass ich ihn mit in die Praxis nehme.

Der Spatz als Co-Therapeut

Der Käfig mit dem Spatz steht in meiner Praxis auf dem Fensterbrett. Meine Patienten entdecken ihn bereits beim Betreten des Raumes. Sofort komme ich mit den Kindern ins Gespräch. Sie beobachten das Tier ganz genau und stellen viele Fragen. Was mir sonst in der Sprachtherapie nur mit Mühe gelingt, schafft der Vogel spielerisch: er bringt die Kinder zum Sprechen. Er ermöglicht nicht nur Sprechanlässe, sondern erreicht unsere Herzen. Selbst meine erwachsenen Patienten verlieben sich auf der Stelle in den kleinen Spatzen. Die Stimmung ist heiter, alle Sorgen und Nöte sind auf einmal verschwunden.

Der Spatz als kunsttherapeutische Auseinandersetzung

Wie jede Woche fahre ich am Nachmittag ins Kinderheim. Die Freude der Kinder ist riesig, als sie den Spatz wiedersehen. Sie erkundigen sich nach dem zweiten Spatz und sind erfreut, dass er bereits seine Freiheit genießt. Der sechsjährige Paul kennt sich bereits aus, wie man ihn füttert, und so steckt er behutsam mit der Pinzette die Würmer in seinen Schnabel. Nachdem das Tier versorgt ist, schlage ich Paul vor, mit Knete zu arbeiten. Er ist sofort einverstanden, obwohl er oft meine Vorschläge ablehnt. Zuerst formt er eine Pizza, während ich einen kleinen Vogel knete. Nachdem die Pizza im Ofen gebacken wurde,  teilt er sie in zwei Hälften. Eine Hälfte ist für den Vogel, die andere für ihn.

Ein Nest als sicherer Ort

Nachdem die Pizza aufgegessen ist, kommt Paul auf die Idee, ihm ein Nest zu bauen. Er formt den Boden und fügt nach und nach die Seitenwände ein. Das Nest ist ziemlich hoch, viel höher als der Vogel selbst. Doch das reicht ihm nicht. Das Nest braucht noch ein Dach. Ich helfe Paul, eine kleine Überdachung anzufügen, aber auch das ist nicht genug. Das Vogelnest soll vollständig geschlossen werden, damit der Vogel von allen Seiten geschützt ist. Also bauen wir gemeinsam ein großes Dach mit nur zwei kleinen Öffnungen. Der Vogel hat dort genug Platz, von außen ist er nicht mehr sichtbar. Paul hat einen wunderbaren, sicheren Ort geschaffen, an dem dem Vogel nichts passieren kann.

"Sichere Orte" in der Kunsttherapie

In der Kunsttherapie wird viel mit dem Thema "sicherer Ort" gearbeitet. Patienten in seelischer Not malen oder gestalten einen Ort, an dem es ihnen gut geht und sie sicher sind. Das kann beispielsweise eine Insel oder ein Garten sein. Paul hat intuitiv die Situation des Spatzens aufgegriffen, der sein Zuhause verloren hat, weil er aus dem Nest gefallen ist. Er kann sich mit dieser Situation genau identifizieren. Die Auseinandersetzung mit diesem Thema und das Gestalten eines sicheren Rückzugsortes stabilisiert ihn und vermittelt ihm das Gefühl von Sicherheit. Am Ende der Stunde nimmt Paul sein Vogelnest aus Knete mit in sein Zimmer. Der sichere Ort ist nun immer präsent.